60 Jahre Anwerbeabkommen mit der Türkei

Die CDU-geführte Bundesregierung unter dem Bundeskanzler Konrad Adenauer hatte das Anwerbeabkommen am 30. Oktober 1961 mit der Türkei geschlossen. Grund war ein starker Arbeitskräftemangel in der deutschen Wirtschaft ab Mitte der 1950er Jahre. Zuvor hatte es bereits ähnliche Abkommen mit Italien, Spanien und Griechenland über die Entsendung sogenannter Gastarbeiter gegeben. Viele von ihnen blieben dauerhaft in Deutschland.

Mit einer Festrede würdigte Bundespräsident Steinmeier den 60. Jahrestag des Anwerbeabkommens mit der Türkei. Bis heute prägen die sogenannten "Gastarbeiter" und ihre Nachkommen das Leben in Deutschland.

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat eine Würdigung der sogenannten Gastarbeiter aus der Türkei angemahnt. Ihre Geschichten verdienten "einen angemessenen Raum in unseren Schulbüchern und in unserer Erinnerungskultur", sagte Steinmeier in Berlin. Er äußerte sich bei einem Festakt der Türkischen Gemeinde in Deutschland zum 60. Jahrestag des deutsch-türkischen Anwerbeabkommens. Steinmeier prangerte auch den fortdauernden "Alltagsrassismus" an. Auch Menschen aus türkeistämmigen Familien der zweiten, dritten oder vierten Generation erhielten bei der Wohnungssuche oder Bewerbungsgesprächen aufgrund von Vorurteilen und Ressentiments häufig noch Absagen.

Seit dem 7. Oktober ist die Broschüre, die der Paritätische Wohlfahrtsverband Berlin anlässlich des 60-jährigen Jubiläums des Anwerbeabkommens der Bundesrepublik Deutschland mit der Türkei erstellt hat, der Öffentlichkeit zugänglich. Eine der im Sommer 2021 Portraitierten ist Emine Demirbüken-Wegner.

Broschüre des Paritätischen Wohlfahrtsverbands Berlin anlässlich des 60-jährigen Jubiläums des Anwerbeabkommens der Bundesrepublik Deutschland mit der Türkei 

 

Emine Demirbüken-Wegner (56)
› geboren in Kilis
› seit 1969 in Deutschland
› Politikerin (CDU)

Hartnäckig und durch und durch Berlinerin

Emine Demirbüken-Wegner brauchte zwei Anläufe, um endgültig in Deutschland anzukommen. Genau genommen zwei Flüge, die Termine lagen Jahre auseinander. Beim ersten Flug im Jahr 1969 war Emine acht Jahre alt. Der Vater war bereits in Deutschland, er war als Tischler angeworben worden, die Familie in der Türkei geblieben. „Mein Vater kam immer zurück in die Türkei, brachte Geschenke mit und erzählte von der neuen Welt“, erzählt Emine Demirbüken-Wegner. Deshalb freute sie sich und war neugierig, als die Familie dann dauerhaft zu ihm zog.

Der Anfang in Deutschland war nicht leicht: „Ich habe vier Monate in der Schule kein Wort gesprochen und nichts verstanden.“ Die Schule sei nicht auf die Gastarbeiterkinder vor- bereitet gewesen, Sprachkurse gab es nicht. „Ich hatte keine Wahl. Ich sagte mir: ,Wenn du nicht untergehen willst, musst du lernen‘“, sagt Emine Demirbüken-Wegner. Und so macht sie es bis heute. Sich durchkämpfen, hartnäckig sein, immer dranbleiben – das sind Eigenschaften, die sie als Mädchen erwarb und die die erwachsene Frau bis heute ausmachen. „Wenn man Gastarbeiterkind ist, lernt man Ausdauer. Wenn ich heute an ein Projekt glaube, kann ich jahrelang dranbleiben“, sagt sie. Mit dieser früh erlernten Haltung hat sie es ge- schafft: Die Schülerin Emine lernte die deutsche Sprache, behauptete sich als einziges Kind mit türkischen Wurzeln in ihrer Grundschulklasse, fühlte sich in Deutschland zu Hause.

„Wenn du nicht untergehen willst, musst du lernen.“

Doch dann planten die Eltern, in die Türkei zurückzukehren. Das junge Mädchen bildete die Vorhut. Dort, in der Türkei, begann für sie alles von vorn. Die türkische Sprache musste sie erst wieder richtig lernen und sich in ein neues Leben einfinden. „Ich war dort ein Almancı, ein Deutschländer“, erinnert sich Emine Demirbüken-Wegner an ihre Rückkehr in die Tür- kei. Sie sei aus einer heilen Welt gekommen und reiste in ein Land, in dem Bürgerkrieg und Militärdiktatur herrschten. „Mit 16 wusste ich: Wir können hier nicht leben“, sagt sie. Die Bedingung der Eltern für ihre Rückkehr nach Deutschland: das Abitur in der Türkei schaffen. Das war Motivation genug: „Ich habe mit Auszeichnung bestanden.“ So saß Emine Demirbüken-Wegner mit der Hochschulreife in der Tasche zum zweiten Mal in einem Flugzeug nach Berlin. Dieses Mal gab es für sie kein Zurück mehr.

Während ihre Eltern später in die Türkei zurückgingen, ist sie geblieben. Sie hat studiert, einen „ordentlichen Beruf“ ergriffen, eine Familie gegründet und politische Karriere ge- macht. Die Erfahrungen der Kindheit und Jugend, die Hartnäckigkeit haben sie dabei weit getragen. Emine Demirbüken-Wegner war Journalistin beim SFB, Integrationsbeauftragte im früheren Bezirk Schöneberg, Staatssekretärin für Gesundheit, Mitglied im Präsidium der CDU Deutschland und sitzt heute im Abgeordnetenhaus von Berlin.„Ich bin durch und durch Berlinerin“, sagt sie und bezeichnet sich selbst als überintegriert: „Mein deutscher Mann sagt: ,Du bist preußischer als ich.‘“ Doch auch die mediterrane Le- bensart mit der Herzlichkeit, dem gemeinsamen Essen und der Gastfreundschaft gehöre zu ihr. Davon profitieren auch alle, die sie in ihrem Bürgerbüro in Reinickendorf oder im Abgeordnetenhaus besuchen. Als Politikerin beschäftigt sie sich vor allem mit den Themen Bildung, Jugend, Familie und bürgerschaftliches Engagement. Ihr Fachgebiet ist also weit mehr als die klassische Integrationspolitik. „Ich will nicht aus der Nische heraus nur Integra- tionspolitik machen, aber mein Blick dafür war und bleibt immer geschärft“, sagt sie.